14. ARTIKEL: SELBSTORGANISATION - KENNZEICHEN DES LEBENS


 von Regine Reichwein

 

 

Die meisten wissenschaftlich arbeitenden Menschen setzen sich nicht mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen ihrer eigenen Arbeit auseinander, sondern gehen stattdessen nach wie vor davon aus, dass unter „Wissenschaft“ alle dasselbe verstehen. Das Ziel der Ergebnisse der „wissenschaftlicher Arbeit“ besteht dabei meistens darin, die Beeinflussung und Kontrolle über die untersuchten Phänomene zu ermöglichen.

 

 

Das ist für sehr viele Phänomene sehr wichtig, aber eben leider nicht für alle machbar. Selbstorganisierende Systeme entziehen sich aufgrund ihrer großen Komplexität, ihrer operationalen Geschlossenheit und ihres hohen Durchflusses an Energie und Materie jedem gezielten Einfluss und damit jeder Kontrolle. Ihre Entwicklungsprozesse sind nicht vorhersehbar und sie sind nur in Echtzeit beobachtbar.

 

Alle Lebewesen, ökologische Systeme, Klima, Wetter, Vulkane, Plattentektonik und viele andere gehören dazu, aber auch ökonomische Systeme, Aktienmärkte, gesellschaftliche und politische Entwicklungen erweisen sich sehr häufig ebenfalls als selbstorganisierend und können bzw. müssten daher als solche betrachtet werden.

 

Aber genau das findet nicht statt. Auch eine „Mathematik, die dynamische Prozesse abbildet“, wie sie sich viele Mathematiker wünschen, bietet für die Vorhersehbarkeit und damit für die Kontrolle keine Lösung. Mathematische Methoden für die Berechnung nichtlinearer Systeme ermöglichen mit Hilfe von Näherungslösungen und Computern mit hoher Rechenkapazität Simulationen ihrer Entwicklungen, aber keine Vorhersagen darüber, wann und wie ein einzelnes Ereignis tatsächlich auftritt. Es sind nur statistische Aussagen machbar und diese ermöglichen diese keine Vorhersage für einen Einzelfall.

 

 

Während meiner langjährigen Arbeit als Professorin an der Technischen Universität Berlin habe ich immer wieder festgestellt, dass der Aspekt der fehlenden Vorhersagbarkeit und der nicht vorhandenen gezielten Einflussnahme auf selbstorganisierende Systeme bei meinen Kollegen unerwünscht und das Interesse an dem Modell der Selbstorganisation wohl deshalb sehr gering war. Ich denke jedoch, dass eine solche Auseinandersetzung außerordentlich wichtig ist, insbesondere da selbstorganisierende Systeme nach besonderen Prinzipien funktionieren bzw. bestimmte Notwendigkeiten erfüllt sein müssen, damit diese Systeme überleben können.

 

Selbstorganisation ist in gewisser Weise die Erscheinungsform des Lebendigen bzw. des Veränderlichen oder anders ausgedrückt: Selbstorganisierende Prozesse sind das Kennzeichen des Lebendigen und vieler anderer sich zeitlich verändernder Prozesse.

 

Viele WissenschaftlerInnen haben sich seit etwa vier Jahrzehnten mit solchen Systemen auseinandergesetzt und auf die besonderen Notwendigkeiten aufmerksam gemacht, die für das Überleben dieser Systeme erforderlich sind.

(Literaturhinweis: Vester, F.: DAS NEUE DENKEN in meinem Buch LEBENDIG SEIN, Buchhinweis siehe unten.)

 

Die neuen Erkenntnisse sind insbesondere deshalb so wichtig, weil die selbstorganisierenden Systeme auf diesem Planeten miteinander vernetzt und aufeinander angewiesen sind, um zu überleben. Leider haben sich diese neuen Erkenntnisse bisher – wie gesagt – nicht in ausreichendem Maße verbreitet.

 

Ich habe versucht mit meinen Büchern LEBENDIG SEIN und VERANTWORTLICH HANDELN und in den Blogartikeln meines BLOGS WECHSELWIRKUNGEN auf meiner Website KOMPETENZ ERWEITERN die zugrunde liegenden Gedanken möglichst einfach und auf unser alltägliches Verhalten bezogen vorzustellen.

 

LITERATURHINWEISE:

 

"LEBENDIG SEIN" – Das Phänomen der Selbstorganisation und seine Konsequenzen für unser Zusammenleben. Strategien des Scheiterns und Gelingens“  (Bestellung z. Zt. über das KONTAKTFORMULAR)

 

"VERANTWORTLICH HANDELN" – Das Phänomen der radikalen Wechselwirkung und seine Konsequenzen für unser Zusammenleben. Strategien des Scheiterns und Gelingens“ (Bestellung z. Zt. über das KONTAKTFORMULAR)

 

BLOGS WECHSELWIRKUNGEN auf meiner Website KOMPETENZ ERWEITERN unter www.reginereichwein.de

 

 

Allerdings stoßen diese Erkenntnisse bei nicht nur wissenschaftlich arbeitenden Menschen auf große Widerstände. Viele Menschen wollen auf die kulturhistorisch entstandenen und weitverbreiteten Illusionen von Macht und Kontrolle nicht verzichten, mit denen sie tagtäglich ihre jeweiligen Wirklichkeiten herstellen und interpretieren.

 

Trotzdem habe ich in den letzten Jahren ab und an Hinweise darauf gefunden, dass sich diese Erkenntnisse langsam ausbreiten.

Insofern denke ich, dass sich eine zunehmende Bewusstheit für die grundlegenden Notwendigkeiten selbstorganisierender Systeme entwickelt.

 

Mit diesem Beitrag möchte ich auf diese Notwendigkeit hinweisen.

Es geht darum, sich um eine entsprechende Bewusstheit zu bemühen und diese ist insbesondere in allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen es um das Leben von Menschen im Zusammenhang mit verschiedenen Entscheidungs-, Planungs- ,Wachstums- und Ausgleichsprozessen geht, von großer Bedeutung.

 

    Selbstorganisierende Systeme funktionieren aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr in gesetzmäßig formulierbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern auf der Grundlage von Prinzipien. Mehrere Prinzipien müssen mehr oder weniger alle gleichzeitig eingehalten werden, um die Wahrscheinlichkeit des Überlebens solcher Systeme zu erhöhen.

 

 

Diese  will ich im Folgenden nacheinander und voneinander getrennt – auch in den noch folgenden Beiträgen – deutlich machen, obwohl sie alle miteinander gemeinsam zu berücksichtigen sind.

 

 

EINIGE GRUNDLEGENDE PRINZIPIEN SELBSTORGANISIERENDER SYSTEME

 

1. Die Notwendigkeit eines hohen Durchflusses von Energie und Materie

 

Auch Energie kann in den verschiedensten Formen auftreten und von den selbstorganisierenden Systemen verbraucht, verändert oder neu hergestellt werden. Aber in Bezug auf den Inhalt von Informationen sind die jeweiligen Systeme geschlossen. Das bedeutet, dass der Transfer von „Informationen“ von einem System zu einem anderen zwar – energetisch gesehen – funktioniert, dass aber der Inhalt der transportierten „Informationen“ erst im Inneren des jeweils anderen Systems hergestellt wird. Bei den meisten Tieren ist dies kein Problem, sie interpretieren die ankommenden Signale entsprechend ihrer biologischen Ausstattung und setzten sie meist ohne Zögern in solche Handlungen um, die der Qualität ihres Überlebens dienen.

 

Je komplexer die Bewusstheit eines Lebewesens oder einer Gruppe von Lebewesen – welcher Art auch immer – jedoch ist, desto größer wird auch die Vielfalt der möglichen Interpretationen. Die überall auf der Welt beobachtbaren Missverständnisse und die juristisch ausgefeilten Verträge bei wichtigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, machen dies immer wieder deutlich. 

 

 

2. Die Notwendigkeit intensiver Interaktionen durch Vernetzung

 

Alle selbstorganisierenden Systeme sind intern mit ihren Untersystemen – d. h. bevorzugt in kleinen Einheiten – und extern mit den sie umgebenden Systemen vernetzt und tauschen sich ständig mit materiellen und energetischen Prozessen untereinander aus. Dabei verändern und verwandeln sie sich ununterbrochen. Ob es sich dabei um Zellbausteine, Zellen, Zellverbände, Organe oder einzelne Lebewesen handelt, oder ob es um Gruppen von Lebewesen oder Aktienpakete handelt, stets geht es darum, die notwendigen Wechselwirkungen durch Austauschprozesse aufrechtzuerhalten.

 

 

3. Die Notwendigkeit negativer Rückkopplungsprozesse

 

Beschränkungsprozesse werden durch sogenannte negative Rückkopplungen ermöglicht, diese haben deshalb immer Vorrang vor positiven Rückkopplungen, die zwar Prozesse in Gang setzen, aber nicht eingrenzen können. Leider wird dieses Prinzip von Menschen meistens nicht berücksichtigt, denn nach wie vor glauben viele trotz der beschränkten Ressourcen dieses Planeten noch immer an die Möglichkeiten unbegrenzten Wachstums.

 

 

4. Die Notwendigkeit der Verwendung von strukturellen Ähnlichkeiten für die Entwicklung von Prozessen unterschiedlicher Art

 

Selbstorganisierende Systeme sind ständig in Veränderung begriffen. Da sie alle miteinander vernetzt sind und sich – um zu  überleben – ihren jeweiligen Umgebungen anpassen müssen, wäre jede Stagnation gefährlich. Allerdings könnten beliebige Veränderungsprozesse zu viel Material und Energie kosten, deswegen haben selbstorganisierende Systeme die Tendenz, bereits bewährte Muster und strukturelle Ähnlichkeiten von Problemlösungen immer wieder aufzugreifen und höchstens zu verbessern.

Bei Produktionsprozessen in der Industrie ist es wichtig, aktiv auf die Einhaltung dieser Notwendigkeit zu achten und sie bereits in Planungsprozessen zu berücksichtigen. Strukturelle Ähnlichkeiten sind zwar einerseits die Grundlage von Lernprozessen, können sich allerdings andererseits auch als hinderlich erweisen, wenn es darum geht, sich neue Muster oder Prozesse mit noch unbekannten strukturellen Merkmalen anzueignen.

Das gilt auch für Gewohnheiten und mentale Muster. Unter anderem deshalb stellt sich auch immer wieder heraus, dass selbstorganisierende Systeme außerordentlich träge sind, außer es geht um Leben und Tod.

 

Alles Neue kann gefährlich sein und wird daher oft zunächst entweder gar nicht erst zur Kenntnis genommen, geleugnet oder verdrängt. Erst wenn die Angst vor den Gefährdungen der Umwelt größer geworden ist als die Angst vor dem Neuen, hat das Neue eine Chance.

Allerdings kann mit Hilfe von „Bewusstheit“ und einer damit einhergehende Einsicht in die Notwendigkeit der Akzeptanz des Neuen der Prozess der Aneignung von Neuem unterstützt werden.

 

Menschen – als Lebewesen mit Bewusstsein – können sich wahrscheinlich dieser „Trägheit“ dadurch widersetzen, dass sie ihre Fähigkeiten zur Lösung von Problemen aktiv einsetzen. Immer wieder gibt es eine Vielzahl von Menschen auf der ganzen Welt, die sich darum bemühen, konstruktive Lösungen für die vielen Probleme auf der Welt zu finden und andere Menschen von der Notwendigkeit zu überzeugen, diese auch umzusetzen. Sie stoßen allerdings auch oft wegen dieser „Trägheit“ an Grenzen.

 

 

5. Die mögliche destruktive Wirkung positiver Rückkopplungen

 

Die vielen wissenschaftlichen und politischen Debatten, wie man die drohende Klimakatastrophe oder das Aussterben von Lebewesen verhindern, die wachsende Belastung der Meere oder die steigende Vergiftung von Wasser, Luft und Erde usw. begrenzen könnte, haben bisher leider nicht zu ausreichenden Maßnahmen geführt.

 

     Menschen sind offensichtlich nicht durchgängig die rationalen Lebewesen, die nach ihren Einsichten handeln, wie sie oft selbst glauben, sondern versuchen leider häufig, ihre persönlichen Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit beliebig zu vergrößern. Die auch in Deutschland immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zeigt dieses sehr deutlich.

 

 

Immer wieder setzen Menschen daher positive statt negative Rückkopplungsprozesse (positive Rückkopplungen im Sinne von „verstärkenden“ Rückkopplungen) in Gang, die kurz- oder langfristig zur Zerstörung des betreffenden und der benachbarten Systeme führen. Gier, Machtstreben und Kontrollwünsche führen – aufgrund der damit einhergehenden positiven Rückkopplungen – zu Fehlentscheidungen eines bestimmten Prozentsatzes der Bevölkerung in den verschiedensten Ländern und der Rest der sich meistens machtlos fühlenden Bevölkerung leidet darunter.

 

In letzter Zeit jedoch kam es zu Protesten, denn Menschen – wie alle selbstorganisierenden Systeme – legen sehr großen Wert auf ihre Autonomie und beginnen sich zu wehren, wenn sie unterdrückt werden.

Auch wenn manchmal viel Zeit vergeht, bis der Widerstand erfolgreich ist, kann man davon ausgehen, dass Autonomie den Menschen meist ebenso viel bedeutet wie ihr eigenes Leben.

Leider dauert es in vielen Fällen sehr lange, so dass eine Vielzahl von Menschen in der Zwischenzeit in schreckliche Situationen gerät oder umkommt. Gerade in der letzten Zeit sind Millionen von Menschen auf der Flucht, um ihre Familien, ihr Leben und ihre Freiheit zu retten und  Eingrenzungen aller Art werden sie langfristig nicht davon abhalten.

 

 

6. Die Notwendigkeit zur ständigen Anpassung

 

Eine der grundlegenden Notwendigkeiten von selbstorganisierenden Systemen beruht auf ihrer Fähigkeit sich anzupassen. Können sie sich nicht schnell oder gut genug anpassen, gehen sie zugrunde.

 

    Ich denke, dass Menschen in Bezug auf  angemessene Anpassungen noch sehr viel dazulernen müssen, um sich nicht mehr gegenseitig in dem Ausmaße zu schaden, wie es heute zu beobachten ist. Die meisten Lebewesen sind besser in der Lage als Menschen, sich auf Veränderungen und neue Erfordernisse ihrer Umwelt einzustellen, wie sich unter anderem an der Entwicklung von Resistenzen gegen Giftstoffe bei Bakterien und bei vielen Pflanzen und Tieren  deutlich  erkennen lässt.

 

 

Das menschliche Bewusstsein ist in Bezug auf eine aktive Anpassung an neue Erfordernisse der eigenen Umwelt – wie z. B. die zunehmende Globalisierung, die Entwicklung und Ausbreitung des Internets, die zunehmende Gefährdung der Menschen durch Klimaveränderungen, Wasser- und Nahrungsmangel, kriegerische Auseinandersetzungen und zunehmende Versklavung von hilflosen Menschen – einerseits hervorragend ausgestattet, andererseits auch ein außerordentliches Hemmnis.

Ich meine damit, dass wir – trotz der Begrenztheit durch die uns teilweise bekannten Eigenschaften unseres Gehirns – intensivere und sinnvollere Anpassungsprozesse in Gang setzen könnten, als wir es zurzeit tun.

 

Erfreulicherweise arbeiten viele Menschen bereits an Lösungsvorschlägen für sehr verschiedene Probleme und engagieren sich dafür, dass sie auch realisiert werden.

 

©Autorenrechte Regine Reichwein

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