von Regine Reichwein

 

 

Wir haben – kultur­historisch unter­stützt – eine „Liebe für das Iden­tische“ entwickelt. Das je­weils Anders­artige oder sogar Fremde wird meist ab­ge­lehnt, als bedroh­lich ange­sehen oder sogar be­kämpft. Das bedeu­tet, dass wir das bis­her Unbe­kannte nur in sehr gerin­gem Maße nut­zen kön­nen, um unser Wissen und unse­re Kompe­tenzen zu er­wei­tern.

Statt­dessen unterstützen wir – meist unbe­wusst – die Stagna­tion unse­res eigenen Poten­tials und das wirkt sich lang­fristig verhäng­nis­voll in Bezug auf wei­tere evo­lutio­näre Pro­zesse aus. Daran, dass wir da­durch unsere men­schli­chen Mög­lich­kei­ten nur un­genügend nutzen, sind wir alle be­tei­ligt, jede ein­zelne Per­son, jede ein­zelne Wissen­schaft­lerin und jeder ein­zelne Wissen­schaftler, jeder Berufs­tä­tige und jeder, der es sich ohne wei­te­res Nach­denken ein­fach nur gut ge­hen lässt.

 

 

Seit Jahrhunderten suchen Menschen – unter anderem mit Hilfe der Wissenschaften – nach Erkenntnissen und sie haben immer wieder Erstaunliches und Neues dabei herausgefunden. Leider hat sich bis heute nicht überall herumgesprochen, dass die gewonnenen Erkenntnisse stets nur innerhalb des Rahmens, in dem sie gewonnen wurden, und keineswegs in einer vermeintlich für alle Menschen gemeinsamen Wirklichkeit ihre Gültigkeit haben.

 

Die Vorstellung einer „gemeinsamen Wirklichkeit“, der wir uns angeblich durch unsere Erkenntnisse oder unseren „Glauben“ sukzessive annähern können, ist weit verbreitet. Und da es durchaus Unterschiede gibt in den Erkenntnissen – in Abhängigkeit von den Rahmen, innerhalb derer sie gewonnen werden –, teilen sich die jeweiligen Erkenntnisse für die meisten Menschen in sogenannte „richtige“ und sogenannte „falsche“ Erkenntnisse auf.

 

Über die Jahrhunderte hinweg entstehen in diesem Zusammenhang auch immer wieder Herrschaftsverhältnisse, in denen diejenigen, die sich im Besitze der „richtigen“ Erkenntnisse wähnen, sich denjenigen mit den „falschen“ Erkenntnissen überlegen fühlen und diese gegebenenfalls auch bekämpfen. Durch die Jahrhunderte hindurch gab es immer wieder furchtbare Kämpfe und viele Todesopfer, nur um einer angeblich richtigen Erkenntnis zum „Sieg“ – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verhelfen. Solche Kämpfe kann man bis heute in allen Teilen der Welt beobachten.

 

      Wir haben die vielen Gelegenheiten, uns zu bescheiden und auf eine allgemeine, für alle gültige Wirklichkeit zu verzichten, bis heute nicht in ausreichendem Maße ergriffen. Die Kämpfe darum, wer „Recht hat“, werden heute noch in jeder Familie, in allen möglichen Gruppen und auf internationaler Ebene ausgefochten. Es ist ein sinnloses Unterfangen. Dazu kommt, dass „Recht haben“ noch nie auch nur irgendein konkretes Problem gelöst hat. Problemlösungen brauchen keine „richtigen“ Meinungen, sondern angemessene Handlungen.

 

 

Im Zusammenhang mit der Globalisierung und der zunehmenden Vernetzung treffen viele unterschiedliche Kulturen, verschiedene Bräuche, Religionen, Sprachen und so weiter aufeinander und es ist von entscheidender Bedeutung, ob sich die Menschen wechselseitig um Verständnis bemühen oder sich gegenseitig bekämpfen. Eine für alle gemeinsame Wirklichkeit lässt sich nicht mehr finden, allenfalls Einigungen auf jeweilige gemeinsame "Konsenswelten".

 

Durch die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften wird deutlich, dass jeder Mensch – wie andere Lebewesen auch – in seiner eigenen Wirklichkeit lebt, die er ununterbrochen – in Wechselwirkung mit seiner Umwelt – selbst herstellt. Dadurch unterscheidet sich die Wirklichkeit jedes einzelnen Menschen von der eines  anderen Menschen.  Unsere Vorstellungen von dem, was angeblich "normal" oder "selbstverständlich" ist, sind nicht verallgemeinerbar.

 

 

Das bedeutet, dass wir die Vorstellung von „einer einzigen Wirklichkeit“, in der wir alle leben, aufgeben müssen. Wir können nur miteinander mit Hilfe unserer Empathie, unseres Interesses und unserer Neugier Konsenswelten herstellen.

 

Um das allerdings auch tun zu können, wird es Zeit, Neues dazu zu lernen. Dabei geht es vor allem um folgendes:

 

 

Grundlegende Notwendigkeiten im Umgang mit „bewussten“ Lebewesen

 

Dieses Neue umfasst vor allem die grundlegenden Prinzipien Selbstorganisierender Systeme.

(Siehe dazu auch:

BLOGARTIKEL 14: SELBST­OR­GA­NI­SATION - KENNZEICHEN DES LEBENS)

 

Wir dürfen – wenn wir unser Überleben sichern wollen – diese grundlegenden Prinzipien nicht länger ignorieren, sondern sind aufgefordert, aktiv für ihre Einhaltung zu sorgen. Das allerdings setzt einen Bewusstheitswandel voraus, der von uns allen gefordert ist.

Es ist dafür nicht viel mehr notwendig als der Verzicht auf liebgewordene Illusionen, die bis heute alle möglichen Macht- und Kontrollvorstellungen unterstützen. Diese sind jedoch keineswegs geeignet, angemessene Problemlösungen zu entwickeln.

 

      Diese Macht- und Kontrollillusionen sind seit Jahrhunderten Bestandteil unserer Kultur, finden sich aber auch in anderen monotheistischen Kulturen wieder und sie sind bis heute immer wieder Grundlage überheblichen Verhaltens, aggressiv ausgetragener Konflikte bis hin zu massiver Unterdrückung oder Ermordung einzelner oder auch vieler Menschen.

 

 

In einer Zeit, in der Vielfalt oder Diversität in der Welt eine immer größere und inzwischen oft auch positiv besetzte Rolle spielt, ist es erforderlich, solche Macht- und Kontrollvorstellungen zugunsten der Akzeptanz von Differenz und Eigenständigkeit aufzugeben. Von daher ist es heutzutage außerordentlich wichtig, im Umgang mit anderen Menschen, anderen Gruppen und anderen Nationalitäten usw. folgendes zu berücksichtigen:

 

  • Es gibt keine Wahrheit, die für alle Menschen gilt.
  • Es gibt nicht eine einzige Wirklichkeit für alle Menschen, sondern für jeden nur seine eigene Wirklichkeit.
  • Menschen lassen sich nicht gezielt in Bezug auf ihre Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse beeinflussen, sie sind autonom bzw. ihr selbstorganisierendes System ist nur durchlässig für Materie und Energie und ansonsten geschlossen.
  • Die Gefühle eines Menschen sind sein schnelles Informationssystem. Menschen können lernen, die darin verborgenen Informationen zu entschlüsseln, um sich ihren Gefühlen nicht einfach auszuliefern, sondern bewusst und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Dadurch kann die kulturhistorisch gewachsene Spaltung zwischen Denken und Fühlen wieder aufgelöst werden.
  • Für alles, was ein Mensch tut, hat dieser seine inneren "guten" Gründe, auch wenn sie ihm nicht bewusst sind oder diese anderen nicht gefallen.
  • Menschen sind soziale Wesen und es ist von großer Bedeutung, dass jeder Mensch in seinen Beziehungen zu anderen Menschen versucht, auf eine Balance zwischen Geben und Nehmen in den verschiedenen Beziehungen zu achten. Das Gleiche gilt auch für größere oder umfassendere selbstorganisierende Systeme.
  • Menschen legen großen Wert auf ihre Autonomie und werden – unbewusst oder bewusst – rebellisch oder aggressiv, wenn ihnen ihre Handlungen vorgeschrieben oder sie gezwungen werden, sich zu unterwerfen. Deswegen haben Verbote und Gebote nur wenig oder gar keinen Sinn.
  • Da Menschen über Spiegelneuronen verfügen, entstehen in ihnen Simulationen des „Zustands“ und der „Intentionen“ ihres Gegenübers. Diese Simulationen basieren ausschließlich auf den jeweiligen eigenen Erfahrungen und entfalten eine ihnen entsprechende Wirkung im Inneren der wahrnehmenden Person. Sie informieren über eine mögliche Gefühlslage des Gegenübers und dessen eventuelle Wünsche und sind daher für empathisches und die Entwicklung sozialverträglichen Verhaltens unerlässlich.
  • Unabhängig davon, ob diese Wechselwirkungsprozesse bewusst ablaufen oder nicht, kommen damit in gewisser Weise die Auswirkungen des Handelns auf die handelnde Person wieder zurück.
  • Menschen haben, wie wahrscheinlich andere lebendige Wesen auch, bestimmte für sie existenzielle Wünsche an ihre Umwelt, wie z. B. wahrgenommen zu werden, dazu zu gehören, bedeutungsvoll zu sein, eine Wirkung zu haben, geachtet und respektiert zu werden, eine Spur zu hinterlassen und wertgeschätzt bzw. geliebt zu werden.

 

Wegen der immer wieder neu herzustellenden Balance zwischen Geben und Nehmen ist es von großer Bedeutung, sich wechselseitig diese existenziellen Wünsche zu erfüllen.

 

Diese Notwendigkeiten für einen angemessenen zwischenmenschlichen Umgang wurden auf unterschiedliche Arten bereits in vielen Kulturen seit Jahrhunderten formuliert und gelehrt. Allerdings hat sich das Verhalten der Menschen bis heute nicht wesentlich geändert.

 

Heute und hier geht es allerdings nicht mehr nur um moralisch- ethische oder religiöse Begründungen für die erwünschten Verhaltensweisen und den entsprechenden Strafen, wenn man sich nicht danach richtet.

 

     Es geht in vielen gesellschaftlichen Bereichen heute vor allem um andere Begründungen: Menschen sind sehr empfindlich und werden krank, arbeitsunfähig oder aggressiv, wenn ihnen diese existenziellen Wünsche nicht erfüllt werden. Ein unangemessener zwischenmenschlicher Umgang verursacht daher sehr oft hohe Kosten und wirkt sich zusätzlich zerstörerisch - auch in Form von Gewalt- und Terrorakten - auf das gesamte Umfeld aus.

 

 

Die Notwendigkeit aktiver Kompetenzerweiterung im Umgang mit verschiedenen selbstorganisierenden Systemen ist aus diesen und anderen Gründen heute nicht mehr zu übersehen.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen, die konsensfähig sind und die darauf hinweisen, dass es sehr reale destruktive Folgen nicht nur für Einzelne, sondern auch für große Gruppen von Menschen überall auf der Welt hat und haben wird, wenn wir Menschen nicht schnell genug einsichtig werden und versuchen, den Notwendigkeiten selbstorganisierender Systeme zu entsprechen.

 

Inzwischen werden wegen der Zunahme von sich global auswirkenden lokalen Problemen, wie kriegerischen Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen, Epidemien, Flüchtlingswanderungen, Hungersnöten, Wassermangel usw. die Notwendigkeiten von Veränderungen in Bezug auf den Umgang mit diesen Problemen immer deutlicher.

 

      Für mich ist seit langem eine Reihe von politischen Entscheidungen beobachtbar, durch die Probleme eher verschärft werden. Sie basieren auf positiven Rückkopplungen, die sich eskalierend auswirken. Die Kompetenzen, wie mithilfe von negativen Rückkopplungen deeskalierende Prozesse in Gang gesetzt werden können, stehen den Entscheidungsträgern bisher offensichtlich nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung und mögliche Lernangebote werden meist nicht wahrgenommen. Das darf angesichts des Zustandes unseres Planeten nicht so bleiben.

 

 

Wir könnten die entscheidenden Kenntnisse in die schulischen Lehrpläne aufnehmen, in den Universitäten lehren, durch die Medien verbreiten, den gesellschaftlichen Diskurs verstärken und vieles andere mehr. Nicht nur LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, auch JournalistInnen und viele andere mehr sind gefragt, sich an der Aufklärung über die Notwendigkeiten selbstorganisierender Systemen zu beteiligen und sich die notwendigen Kompetenzen anzueignen.

 

Wenn wir zögern, statt die Kenntnisse darüber, nach welchen Prinzipien selbstorganisierende Systeme funktionieren, auf den Umgang mit Problemen  anzuwenden, dann werden wir den Zusammenbruch einer Vielzahl dieser Systeme nicht aufhalten können.

Sichtbar ist dies unter anderem bereits an der überall zu beobachtenden Reduktion der Biodiversität.  

 

 

Auf der ganzen Welt haben sich eine Reihe von Menschen in verantwortlichen Positionen bereits eine Anzahl entsprechender Katastrophenszenarien und dazu passende Auswege ausgedacht, aber leider lassen sich in Bezug auf selbstorganisierende Systeme keinerlei Vorhersagen in Bezug auf deren Entwicklungen machen. Das bewirkt sehr große Verunsicherungen und ist für die meisten Menschen kaum akzeptabel, insbesondere, wenn sie nach wie vor die grundlegende Aussage, dass eine gezielte Beeinflussung und damit eine Kontrolle von selbstorganisierenden Systemen prinzipiell nicht möglich sind, nicht akzeptieren können oder wollen.

 

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass wir lernen mit Unbestimmtheit und der damit einhergehenden Unsicherheit zu leben.

 

Nur solange wir diese prinzipielle Unbestimmtheit nicht akzeptieren, werden nicht nur wir als private Personen, sondern auch als Entscheidungsträger aller Art wahrscheinlich Entscheidungen treffen, die sich aufgrund positiver Rückkopplungen eskalierend auswirken und daher das Gegenteil von dem vorher Beabsichtigten bewirken werden.

 

Wenn wir jedoch akzeptieren, dass es sich bei allen Lebewesen und bei einer Vielzahl von weiteren Erscheinungsformen um selbstorganisierende Systeme handelt, dann müssen wir uns auch nach den grundlegenden Bedingungen richten, die ihr Überleben sichern.

 

Nur damit ermöglichen wir auch unser eigenes Überleben.