3. ARTIKEL: ERWARTUNGEN


von Regine Reichwein

 

 

Menschen sind soziale und intentionale Wesen und haben deshalb, wenn sie nicht gerade satt, müde und in Sicherheit sind, mehr oder weniger un­unter­brochen Erwar­tun­gen an ihre Um­welt, vor allem an ihre Mit­menschen, aber auch an sich selbst.

Viele Menschen – vor allem Männer – halten es für selbst­verständlich, dass ihre Erwar­tungen erfüllt werden und viele – vor allem Frauen – halten es für selbst­verständ­lich, dass sie die Erwar­tungen von anderen erfüllen. Das entspricht der immer noch wir­ken­den Geschlechts­typi­sie­rung in unserer und auch in anderen Kulturen.

 

 

Dadurch sind die Prozesse von „Erwartungen an andere haben und äußern“ und „Erwartungen von anderen erfüllen“ zwischen Menschen häufig nicht in Balance.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem Frauen oft dann nicht auf die Balance zwischen ihrem Geben und dem Nehmen der anderen achten, wenn es für sie selbstverständlich ist, die anderen zu bedienen, zu umsorgen, zu verwöhnen und ihre Erwartungen zu erfüllen.

Wenn die Balance nicht immer wieder hergestellt wird und eine Person oder eine Gruppe von Personen immer wieder zu kurz kommt, hat das Konsequenzen. Siehe dazu: BLOGARTIKEL 1.: BALANCE.

 

Sowohl Erschöpfung als auch Unzufriedenheit, Aggression und Resignation können bei der Person entstehen, die zu viel gibt und zu wenig zurückbekommt und dann wird es wichtig, zu versuchen, wieder ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen bei den beteiligten Personen herzustellen.

 

Aber auch, wenn wir merken, dass wir uns bisher zu sehr und auf unsere Kosten bemüht haben, unsere Partnerin oder unseren Partner, unsere Kinder, Freunde oder Arbeitgeber – manchmal sogar ungefragt – zufrieden zu stellen und nun beschließen, dieses etwas zu reduzieren und mehr auf unsere eigenen Bedürfnisse zu achten, ist das nicht ganz einfach.

 

 

Es macht Angst, nicht mehr das zu tun, was andere von uns erwarten. Sie könnten uns dafür ablehnen und sich abwenden bzw. sie könnten ärgerlich, wütend oder sogar handgreiflich werden und wir haben Angst, ihre Zuneigung oder Liebe oder auch den Kontakt zu ihnen zu verlieren, vielleicht auch ihren Aggressionen ausgesetzt zu sein.

 

Denn wir haben oft schon als Kinder gelernt, dass wir meist dann oder sogar nur dann akzeptiert oder gemocht werden, wenn wir gehorsam sind und das tun, was von uns erwartet wird.

Wir können uns fragen, wie viel uns die Akzeptanz von anderen wert ist, wenn diese mehr oder weniger darauf beruht, dass wir deren Erwartungen erfüllen.

Wir sind nicht die Sklaven von anderen und andere haben nicht das Recht, uns wie Leibeigene zu behandeln und zu „bestrafen“, wenn wir nicht bereit sind, zu gehorchen und das zu tun, was sie wollen.

 

Wir können uns fragen, ob es zu vertreten ist, dass uns andere Menschen das entziehen, was uns wichtig ist und was wir brauchen, nur weil wir nicht „gehorsam“ sind.

 

 

Wir können es allerdings nicht ändern, wenn sie uns ihre Zuneigung oder mehr entziehen oder sogar versuchen, uns zu bestrafen, aber wir können uns fragen, ob wir uns aus Angst davor weiter unterwerfen wollen.

 

Nehmen wir einmal an, wir haben uns entschlossen, nicht mehr alles den anderen hinterher zu räumen, nicht mehr allein die Einkäufe nachhause zu tragen oder die Arbeit von anderen zu übernehmen, nicht mehr bereitwillig Überstunden zu machen oder für die Lösung der Probleme von anderen die Verantwortung zu übernehmen und vieles anderes mehr, aber wir empfinden die Angst vor den damit eingehenden Veränderungen und den entstehenden Risiken als zu groß.

 

Dann brauchen wir Zwischenwege und den ersten möchte ich hier in diesem Artikel vorstellen:

 

 

1. Methode:

Eigene Wünsche und die Erfüllungen der Wünsche von anderen bewusst und deutlich als solche zu benennen, statt diese weiterhin unausgesprochen zu lassen.

 

Es geht einerseits dabei darum, die eigenen Ängste ernst zu nehmen, die einen daran hindern, einfach einmal „Nein“ zu sagen oder die Erwartungen der anderen Personen auf andere Weise bewusst zu verweigern. Denn wenn die Ängste zu groß sind, kann man das nicht tun.

 

Andererseits kann man, wenn andere die Erfüllung ihrer Wünsche für selbstverständlich halten, mit entsprechenden Worten die eigene erbrachte  Leistung in eine freiwillig geleistete Wunscherfüllung umwandeln, für die man Anerkennung und Dankbarkeit erwarten kann.

 

"Ich tue dies, weil ich dir eine Freude machen will und nicht, weil du es erwartest."

 

Mit den folgenden Beispielen in Bezug auf nicht deutliche geäußerte Erwartungen, die man bisher aber immer „freiwillig" erfüllt hat, möchte ich anregen, sich selbst eigene Formulierungen zu überlegen:

 

  • Ich wollte dir eine Freude machen und habe dein Zimmer gesaugt und sogar noch staubgewischt. Findest du das nicht toll?
  • Ich bin heute extra noch einmal einkaufen gegangen, um dir dein Lieblingsgericht kochen zu können. Und nun möchte ich gern deine Begeisterung sehen.
  • Ich habe mir gedacht, dass es dich freuen würde, wenn ich dir die neue Ausgabe deiner Lieblingszeitschrift mitbringe. Ich hoffe, du findest es gut, dass ich daran gedacht habe.
  • Ich habe heute das Badezimmer ganz gründlich saubergemacht und aufgeräumt und ich möchte, dass du mir sagst, dass du es toll findest, wie viel Arbeit ich mir für dich und mich gemacht habe.

 

Ähnlich geht man bei geäußerten Erwartungen vor. Auch sie werden in einen Wunsch verwandelt und man selbst begibt sich in die Position einer Wunscherfüllerin oder eines Wunscherfüllers.

 

  • „Schatz, hol mir mal ein Bier aus der Küche.“

„Wenn ich dir eine Freude damit machte, dass ich dich ein bisschen bediene, mache ich es gern.“

  • „Lies doch mal Korrektur, was ich geschrieben habe. Es sind nur ungefähr 50 Seiten.“

„Weißt du, ich habe gerade sehr viel zu tun und wenn ich es mache, bedeutet das, dass ich eine Nachtschicht einlegen muss. Aber weil du mir wichtig bist und ich dir deinen Wunsch gern erfüllen will, nehme ich die Zusatzarbeit in Kauf.“

  • „Du kannst doch sicher meine Kinder am Wochenende übernehmen, du weißt doch, ich habe wieder meine Ausbildung.“

„An diesem Wochenende habe ich schon ganz andere Pläne. Aber wenn du niemand anderen für die Kinder findest, dann sage mir Bescheid. Du bist meine beste Freundin und ich werde dich nicht hängen lassen. Deinetwegen werde ich dann auf meine Pläne verzichten.“

  • „Frau Müller, diese Briefe müssen heute geschrieben werden und noch in die Post.“

„Herr Schmidt, dafür brauche ich noch etwa zwei Stunden. Meinen Sie wirklich, dass auf die Briefe so dringend gewartet wird, dass dafür in unserer Firma Überstunden bezahlt werden sollten.“

oder:

  • „Frau Müller, diese Briefe müssen heute geschrieben werden und noch in die Post.“

„Das tut mir aber leid, ich hätte es so gern gemacht, Sie wissen ja, wie mir die Firma am Herzen liegt. Aber ich muss ganz dringend nachhause, und deswegen geht es heute nicht.“

 

Dieses sind einfache Beispiele. Reale Situationen sind meist komplizierter.

 

Es geht hier auch nur um das Prinzip:

Die Mitmenschen, die sich angewöhnt haben, dass ihre Erwartungen selbstverständlich erfüllt werden, sollten begreifen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jemand ihre Wünsche erfüllt, sondern das jede Wunscherfüllung ein Entgegenkommen ist, für das man dankbar sein kann.

 

In vielen Fällen hilft es auch, die geheimen Erwartungen der anderen Person, die man – wenn auch nicht mehr selbstverständlich – bereit ist zu erfüllen, in Wünsche zu verwandeln, die man dann der anderen Person unterstellt.

 

Die folgenden Beispiele zeigen, wie das gemeint ist:

 

  • „Möchtest du gerne, dass ich dir am Sonntag etwas Leckeres koche?“
  • „Würde es dich freuen, wenn ich die Karten für das Musical besorge?“
  • „Fändest du es gut, wenn ich es dir abnehme, das Auto zum TÜV zu fahren?“
  • „Ich hoffe, du wirst es auch genießen, wenn die Betten frisch von mir bezogen ...werden, oder?“
  • „Möchten Sie, dass ich in dieser Woche wieder Überstunden mache?“
  • „Wäre es heute sehr wichtig für Sie, dass ich länger im Büro bleibe?“

 

Es kann auch sehr günstig sein, ganz allgemein nachzufragen.

 

  • „Kann ich jetzt noch irgendetwas für dich tun? Nein? Gut, dann ziehe ich mich zurück und lese meinen Krimi weiter.“
  • „Brauchst du noch etwas von mir? Nein? Dann kann ich ja in aller Ruhe meinen Besuch machen.“
  • „Hast du vielleicht noch einen Wunsch an mich? Nein? Dann gehe ich jetzt ein bisschen in die Stadt“
  • „Gibt es noch irgendeine Erwartung von Ihnen an mich? Nicht? Dann gehe ich jetzt nachhause.“

 

Jedes Mal, wenn ein „Nein“ kommt, kann man daran anschließend mitteilen, was man – statt weitere Erwartungen zu erfüllen – nun selber machen möchte.

Wichtig ist dabei auch, die Fragen nach den Wunscherfüllungen immer auf die Gegenwart zu beziehen. Wer morgen oder in der nächsten Woche staubsaugt, Überstunden macht, die Kinder hütet oder was es sonst noch so gibt, lässt man offen.

 

Es ist wichtig, in der Gegenwart zu bleiben und nur Schritt für Schritt zu versuchen, mehr Balance zwischen dem eigenen Handeln und den Erwartungen von anderen zu erreichen.

Andere Möglichkeiten stelle ich im BLOGARTIKEL 4: HELDENTATEN vor.

 

©Autorenrechte Regine Reichwein

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Kommentare: 1
  • #1

    Gisela Reuter (Samstag, 13 Dezember 2014)

    Zwar habe ich Deine Bücher gelesen, es ist aber eine wunderbare Vertiefung und eine spezielle Hervorhebung, Themen in der Form noch einmal aufzunehmen oder auch neue anzusprechen. In diesen kleinen Dosen bleiben sie für mich noch besser in Erinnerung und die Anregungen lassen sich im Alltag besser umsetzen.
    Tolle Idee, einen Blog zu haben. Bin gespannt auf die nächsten Beiträge.