Wie bereits erwähnt, brauchen selbstorganisierende Systeme die Fähigkeit und die Notwendigkeit, sich an die Erfordernisse einer sich ständig verändernden Umwelt anzupassen.

Dabei verändern sie selbst ebenfalls die Umwelt, in der sie leben, so dass zwischen den Lebewesen und ihren jeweiligen Umwelten eine ständige „radikale Wechselwirkung“ besteht.

 

Sie können dazu auch mein Buch VERANTWORTLICH HANDELN - das Phänomen der radikalen Wechselwirkung lesen. Weitere Informationen finden Sie im BLOGARTIKEL 14: SELBSTORGANISATION.)

 

Wir Menschen haben zwar mit Hilfe unserer kognitiven Fähigkeiten unsere Umwelt außerordentlich verändert, aber wir haben unsere emotionalen und kognitiven Fähigkeiten nicht in gleichem Maße verwendet, um uns aktiv und konstruktiv – d. h. zu unserem Nutzen als voneinander abhängige Menschen in einer globalen Welt – an die von uns veränderte Umwelt anzupassen.

 

Unsere Umwelt hat sich vor allem auch durch die technische Entwicklung der letzten hundert Jahre verändert und die Notwendigkeit der Anpassung an die künstlich erzeugten technischen Umwelten ist nicht mehr zu leugnen.

 

Aber es kann nicht nur um eine einseitige Anpassung an die vielfältigen technischen Angebote gehen, es muss auch darum gehen, dass wir darauf achten, die technischen Angebote an unsere Bedürfnisse und eine für uns günstige Entwicklung zu nutzen. Auch in diesem Bereich kommt es auf bewusste Gestaltung an. Aber bewusste und immer wieder reflektierte Wechselwirkung findet meiner Ansicht nach auch in diesem Bereich nicht in ausreichendem Maße statt.

 

  • Eines von vielen Beispielen unseres Gebrauchs von technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, sind z. B. Videospiele, in denen es sehr häufig nur um Krieg und um die Vernichtung potenzieller Gegner geht.
  • Filme und Fernsehsendungen haben in zunehmender Weise Gewalt und Grausamkeiten zum Inhalt.
  • Es gibt Internetauftritte mit politisch arbeitenden Personen, die jede Verantwortung für ihre Intentionen, ihre Aussagen und Handlungen von sich weisen.
  • Es gibt genetische Experimente mit Lebewesen, deren Ergebnisse teuer verkauft werden und deren Verbreitung zu einer Verarmung der genetischen Vielfalt und - zusätzlich zu der bereits vorhandenen Zerstörung der Umwelt - zu einer Verringerung der Biodiversität führen.
  • Es werden Tausende von chemischen Stoffen für den Alltagsgebrauch hergestellt und verkauft, ohne dass ihre Auswirkungen für die weitere Umwelt geprüft werden.
  • Es werden Atomkraftwerke gebaut, ohne dass es Lösungen für den anfallenden atomaren Abfall gibt und vieles andere mehr.

 

Inzwischen gibt es  eine Reihe von Veröffentlichungen über die bereits beobachtbaren und die potenziellen Gefahren unserer technischen Errungenschaften, über "natürliche" Alternativen und vielfältige Diskussionen dazu in verschiedenen Bereichen, aber es geschieht immer noch zu wenig.

 

Wir passen uns aus "marktwirtschaftlichen" Interessen  immer noch mehr an unsere technischen Möglichkeiten an als umgekehrt diese an unsere menschlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten.

 

Diese Versäumnisse sind aufgrund ihrer langfristigen Auswirkungen nicht nur kostenintensiv, sondern kurz- und langfristig zerstörerisch.

 

Es geht mir an dieser Stelle vor allem darum, dass wir Menschen aufgrund unserer Bewusstheit auf viel intensivere Weise als bisher aufgefordert sind, die von uns in Gang gesetzten Umweltveränderungen auch in Bezug auf die notwendigen wechselseitigen Anpassungsprozesse zu reflektieren.

 

Dabei kann es notwendig sein, verantwortungsbewusste Entscheidungen gegen  die Verwendung bestimmter technischer Möglichkeiten zu treffen.

 

Wir sollten der Versuchung, alles zu realisieren, was möglich ist, unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedingungen für das Überleben selbstorganisierender Systeme widerstehen.

 

Ich denke jedoch, dass dieses nur durch die bewussten Entscheidungen der jeweils beteiligten Personen möglich sein wird.

 

Daher ist für jede Person die Entwicklung besonderer Fähigkeiten notwendig, um den wichtigen Erfordernissen selbstorganisierender Systeme entsprechen zu können.

 

Die gesellschaftlichen Prozesse sich einfach nur so entwickeln zu lassen, reicht angesichts der vielen bereits aus dem Gleichgewicht geratenen Prozesse und der bekannten Trägheit selbstorganisierender Systeme in Bezug auf Veränderungen nicht mehr aus.

Es sind sowohl  kompetenzorientierte Angebote als auch gesetzliche Regelungen  in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen notwendig.

 

Wahrscheinlich wird das alles nicht geschehen, wir unterwerfen uns leider zu leicht der inhärenten Trägheit unserer eigenen Systeme und werden deshalb in Bezug auf Veränderungen kaum initiativ.

Auch darauf haben Wissenschaftler aus verschiedenen Forschungsbereichen bereits seit 1980 aufmerksam gemacht, sie wussten, dass man selbstorganisierende Systeme nicht leicht und schon gar nicht durch äußere Einflüsse verändern kann.

 

Und das gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern für Gruppen, Institutionen, Parteien usw. und ganze Gesellschaften. Sie sind alle nicht gezielt von außen beeinflussbar. Aber jeder einzelne Mensch kann durch die Bewusstheit seiner Verantwortung für seine Entscheidungen eigene Veränderungsprozesse unterstützen.

 

Allerdings muss die Unmöglichkeit gezielter Einflussnahme niemand daran hindern, es wenigstens zu versuchen. Denn die selbstbestimmte Zustimmung zu sinnvollen Entscheidungen und Handlungen ist immer möglich. Daher möchte ich alle auffordern, sich dafür einzusetzen, bei Entscheidungen die grundlegenden Bedingungen der Selbstorganisation zu berücksichtigen und dadurch für deeskalierende Prozesse zu sorgen. Das beginnt bereits im Umgang mit unseren Kindern, unseren Partnern  und sonstigen Mitmenschen, reicht aber weit darüber hinaus.

 

Leider schützt jedoch auch die Entwicklung entsprechender Kompetenzen – wie z. B. das Bemühen, an die möglichen Folgen zu denken und die entsprechenden Möglichkeiten mehrmals zu überdenken – wegen der Nichtberechenbarkeit selbstorganisierender Systeme nicht davor, Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen sich als sehr problematisch erweisen können. Das Risiko und damit die Unsicherheit in Bezug auf die Ergebnisse des Geschehens werden sich  - wegen der prinzipiellen Unberechenbarkeit der realen Entwicklungen selbstorganisierender Systeme -  nicht vermeiden lassen.

 

Daher gibt es im Umgang mit selbstorganisierenden Systemen  keine Sicherheit darüber, ob eine Entscheidung "richtig" oder "falsch"  ist, man kann es einfach nicht im Vorfeld wissen.

 

Wohl aber gibt es die Möglichkeit, in Absprachen mit anderen Menschen angemessene oder moralisch-ethische vertretbare Entscheidungen zu treffen. Dabei geht es meiner Ansicht nach um die Frage, ob die jeweiligen Entscheidungen mit den Menschenrechten, den darauf beruhenden grundlegenden  ethischen Werten und dem Allgemeinwohl vereinbar sind.

 

    Im bewussten Umgang mit selbstorganisierenden Systemen verlieren – wie gesagt – die Begriffe „richtig“ und „falsch“ ihre in deterministischen Systemen durchaus wichtige Bedeutung. Selbstorganisierende Systeme sind ständig in Veränderung begriffen, man kann diese Prozesse – wie gesagt – nur in Echtzeit beobachten, aber nicht vorhersagen.

 

Es gibt  – um es noch einmal zu wiederholen – nur statistische Vorhersagen in Bezug auf eine mögliche Entwicklung und diese sagen nichts über den jeweiligen Einzelfall aus.

 

Wir leben jedoch in einer Kultur, die überwiegend ergebnisorientiert ist und sind im prozessorientiertem Denken und Handeln nicht geübt.

Aber Prozessorientierung ist die einzige Möglichkeit, angemessen mit den Veränderungsprozessen von selbstorganisierenden Systemen umzugehen.

 

 

Es gibt - zusätzlich zu den bereits in den vorherigen Beiträgen erwähnten - noch weitere grundlegende Prinzipien, die für das Überleben selbstorganisierender Systeme erforderlich sind.

 

Dazu gehört auch die Notwendigkeit, Prozesse vernetzter selbst­organisierender Systeme möglichst in Kreisläufen zu organisieren.

Neben den bereits angesprochenen prinzipiellen Notwendigkeiten selbstorganisierender Systeme gehören daher auch eine interne und eine externe Organisation in – teilweise miteinander verbundenen – Kreisläufen von Materie und Energie.

Selbstorganisierende Systeme verbrauchen im Allgemeinen so wenig Energie und Materie wie möglich und alles, was sie nicht brauchen, wird von anderen Lebewesen verwendet. In dem Sinne gibt es keinen endgültigen Abfall. Was für ein Lebewesen Abfall ist, wird für andere Lebewesen zur neuen Nahrungsquelle.

 

In der Natur wird alles weiterverwendet, umgewandelt und wieder zerlegt und kehrt schließlich in den Kreislauf von Materie und Energie zurück.

Nur wir Menschen haben uns an diese grundlegende Notwendigkeit nicht gehalten, stattdessen haben wir Unmengen von Abfall produziert.

 

Erst langsam lernen wir, Abfall aus einem Prozess als Ressource für einen anderen Prozess anzusehen und dementsprechend zu verwenden. Es gibt inzwischen viele kreative Ideen, sogenannten Abfall zu recyceln oder verstärkt Kreisläufe zu initiieren, wie z. B. in dem Konzept der Permakultur oder in dem cradle-to-cradle Konzept. Mehr und mehr in Produktkreisläufen zu denken, ist sehr wichtig.

 

 

      Das, was sich in der Natur sozusagen „natürlich“ ergibt, müssen sich Menschen mühsam mit viel Bewusstheit erarbeiten. Ohne bewusste und kritische Wahrnehmung und Entscheidungsfindungen im Hinblick auf das Wohlergehen des Gesamtsystems kann man die hier erwähnten Notwendigkeiten nicht erfüllen.

 

 

Ich will hier noch einmal die wesentlichen Notwendigkeiten für das Überleben selbstorganisierender Systeme zusammenfassen.

Für selbstorganisierende Systeme sind folgende Prozesse erforderlich:

 

  • Sie brauchen einen hohen Durchfluss an Materie und Energie.
  • Sie brauchen es, jeweils als Einheit gegenüber anderen Systemen abgeschlossen und nur durchlässig für Materie und Energie zu sein.
  • Sie brauchen eine Organisation in kleinen Einheiten, hoch vernetzt mit zum eigenen System gehörigen größeren Einheiten und dem jeweiligen Umfeld.
  • Sie brauchen Balancierungsprozesse durch positive und negative Rückkopplungen.
  • Negative Rückkopplungsprozesse haben Vorrang vor positiven Rückkopplungsprozessen.
  • Sie brauchen die Verwendung, die Wiederverwendung und die Vereinfachungen bewährter Muster und Strukturen.
  • Sie brauchen ununterbrochene aktive Anpassung mit Hilfe von wechselseitigen Veränderungsprozessen zwischen sich und ihrer Umwelt.
  • Sie brauchen Prozessorientierungen als Versuch konstruktiven Umgangs mit sich selbst und mit der eigenen Umwelt.
  • Sie brauchen die weitgehende interne Wiederverwertung von bestimmten „Abfallprodukten“ und die externe Verwertung von „Abfall“ durch Vernetzung mit anderen Systemen, die diesen als Rohstoff weiter verwenden können.
  • Menschen als selbstorganisierende Systeme brauchen die bewusste Wahrnehmung der in ihnen und außerhalb von ihnen ablaufenden Prozesse. Sie brauchen die Verantwortung für die eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche und Handlungen und sie brauchen Entscheidungen in Richtung des Wohlergehens des Gesamtsystems (z. B. im Sinne des Kantschen Imperativs).

 

Es gibt durchaus eine Reihe von Ideen und Projekten, durch die vereinzelte Aspekte dieses Modells realisiert werden, und es kommen jeden Tag neue hinzu. Aber es ist nicht genug. Es fehlt meiner Meinung nach ein intensiver gesellschaftlicher Diskurs, der vor allem die Bereiche von Bildung und Ausbildung umfasst, aber  auch EntscheidungsträgerInnen aus den verschiedensten Bereichen mit einbezieht.

 

Von besonderer Bedeutung ist es,  bereits Kinder mit den Prozessen vertraut zu machen, die lebendige Wesen zum Leben brauchen. Bis jetzt findet eine solche Unterstützung jedoch nicht statt, weil auch Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen sich meistens noch nicht mit den Notwendigkeiten  und Grenzen  von selbstorganisierenden Systemen – so wie sie es selbst auch sind – auseinandergesetzt haben.

 

      Die Erwartung, die Kinder müssten gehorchen und das tun, was von ihnen erwartet wird, die Vorstellung, Strafen würden etwas nützen,, die unangemessene Forderung, Gefühle zu unterdrücken, die Bevorzugung konvergenten und ergebnisorientierten Denkens vor allen anderen Denkmöglichkeiten und vieles andere mehr sind nicht vereinbar damit, dass Kinder lebendige und damit autonome, selbstorganisierende Wesen sind.

 

 

Wir brauchen sehr viel Bewusstheit, damit wir uns wieder darauf besinnen können, was wir als Menschen für uns brauchen.

(Siehe dazu auch: BLOGARTIKEL 16: DENKEN - ERWEITERUNG UNSERER KOMPETENZ)

 

Sehr lange haben kulturhistorisch gewachsene Vorstellungen für die Stabilisierung von Herrschaftssystemen gesorgt, aber wir können zurzeit in vielen Teilen der Welt beobachten, dass sich Prozesse abspielen, in denen Menschen sehr vieles an kulturell Althergebrachtem in Frage stellen und sich um Neuorientierungen bemühen.

 

In vielen Fällen fehlen jedoch die Inhalte für solche Neuorientierungen und das kann dann dazu führen, dass es nur zu Ablehnungen des bisher Bestehenden und zu zerstörerischen Handlungen kommt.

 

Insofern sind viele Menschen gefragt, ihre Verantwortung bewusst wahrzunehmen, ihre Gefühle als schnelles Informationssystem anzusehen und dementsprechend jeweils auf ihren Informationsgehalt zu untersuchen, sich bewusst zu machen, dass sie vor allem Wünsche an andere haben und vieles andere mehr, was ich hier in den verschiedenen Beiträgen vorgestellt habe.

 

Es ist entscheidend wichtig, dass sich möglichst viele von uns im Sinne des Erhalts des Lebens in seiner ganzen Vielfalt bewusst engagieren.